Wo/wie dürfen Oberleitungsmasten gesetzt werden?

  • Liebe Forengemeinde,


    wenn an vielgleisigen Strecken oder auch in Bahnhöfen zahlreiche Gleise vorhanden sind, die alle eine Oberleitung benötigen, dann hatte ich bislang den Eindruck, dass das i.d.R. mit Quertragwerken gemacht wird. Nun hatte ich kürzlich in Fulda eine längere Wartezeit auf einen Zug und dabei ist mir aufgefallen, dass dort keine Quertragwerke errichtet wurden, sondern dass auf jedem zweiten Bahnsteig große Masten stehen, an denen sich sehr lange Ausleger mit jeweils zwei befestigten Oberleitungen befinden. Auch gibt es Masten, die in Bahngebäude quasi hineingestellt wurden und deren Dächer durchstoßen. All dies hat mich nun neugierig gemacht. Daher folgende Fragen:

    1. Werden auch heute noch Quertragwerke errichtet oder ist man davon gänzlich abgekommen?
    2. Wie verbreitet sind Quertragwerke heute noch?
    3. Dürfen heute noch Oberleitungsmasten auf Bahnsteige gesetzt werden?
    4. Wie weit müssen Oberleitungsmasten von der Bahnsteigkante entfernt sein?
    5. Wie viele Gleise dürfen mit einem Ausleger überspannt werden (ich habe bisher nur Ausleger über zwei Gleise gesehen, aber könnte man auch 3 oder 4 oder noch mehr Gleise von nur einem Mast aus überspannen? (Beim Modellbahnbau gibt es Ausleger, die über drei Gleise reichen, aber auch in der Realität?)
    6. Spannt die Bahn eigentlich auch manchmal Oberleitungen an Gebäuden ab, wie es bei Straßenbahnen mit dem Fahrdraht noch manchmal der Fall ist? Falls ja, baut die DB diese Befestigung ebenso ab, wie die VGF das in Frankfurt tut und setzt stattdessen Masten?
    7. Wenn man heute einen Bahnhof mit vielen Gleisen (10 oder mehr Gleise) auf freier Fläche gänzlich neu bauen würde, wie würde man dann dieses Stromthema lösen? Also wohin die Masten und welche Art der Abspannung?

    Vielen Dank vorab
    Euer multi

    "Phantasie ist wichtiger als wie wo Wissen!"


    (Etwas frei nach Albert Einstein)

  • Quertragwerke übertragen Störungen sehr leicht: mit einzelnen Masten ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein gerissener Draht gleich den gesamten Bahnhof betrifft, deutlich kleiner. Ohne belastbare Daten spekuliere ich:

    1. Nicht, wenn's ohne geht
    2. Nicht so sehr
    3. Ja! Das ist ja die Alternative für Quertragwerke
    4. kA
    5. Ich meine, es gibt zwischen Kassel und Eichenberg dreigleisige Ausleger
    6. An Bahneigenen Bauwerken definitiv – Stützwände, Tunnel. An freistehenden Haushaften Gebäuden mW nicht
    7. Einzelmasten wo auch immer Platz ist. Guck dir Sportfeld an, da passiert im Prinzip genau das* – und früher war der voll mit Quertragwerken.
  • Hallo multi, ich versuche deine Fragen mal zu beantworten:

    Zu 1.

    Die klassischen Quertragwerke werden meines Wissens nach heutzutage nicht mehr verbaut, da durch die Seilkonstruktion Schwingungen von einem Fahrdraht auf die anderen übertragen werden.

    Zu 2.

    kann ich nicht direkt beantworten, allerdings genießen diese soweit ich weiß Bestandsschutz und werden daher erst nach und nach ersetzt.

    Zu 3.

    Ja, wurde im Sommer 2020 so in Groß Gerau gemacht, sogar als Großmast mit je 2 Gleisen Überspannung pro Seite.

    Zu 4.

    Kann ich leider nix sagen, in Groß Gerau sind es ca. 2,5 Meter Abstand zwischen Mast und Bahnsteigkante.

    Zu 5.

    Ich meine schon einmal Abspannmasten über 3 Gleise gesehen zu haben, bin mir da aber auch nicht hundert Prozent sicher.

    Zu 6.

    Kann ich nichts sagen, wäre mir aber neu, wenn es solche Konstruktionen wie bei der VGF gibt.

    Zu 7.

    Zum einen gäbe es die Möglichkeit Abspannmasten zwischen die Gleise zu bauen, zum anderen kann man Quertragwerke nach schweizer Vorbild bauen und die Strecke zwischen den beiden Pfosten auf der Seite mit einer Stalkonstruktion, statt Seilen zu verbinden und den Fahrdraht dann dort aufzuhängen. Eine solche Konstruktion habe ich auch schon in Bad Vilbel gesehen.

    Gruß, Mikal

  • Zu 4):

    § 13 Abs. 2 EBO:

    Zitat

    Feste Gegenstände auf Personenbahnsteigen (Säulen und dergleichen) müssen bis zu einer Höhe von 3,05 m über Schienenoberkante mindestens 3,00 m von Gleismitte entfernt sein. Bei bestehenden Anlagen mit geringem Verkehr darf das Maß von 3,00 m bis auf 2,70 m unterschritten werden; Ausnahmen von diesem Mindestmaß sind zulässig (§ 3 Abs. 1 Nr. 2).

    Ich würde sagen, dass dies auch für Masten gilt.

  • zu 6.):

    Wie baeuchle schon schrieb, gibt es die Bauwerkserdung bei Tunneln und Stützwänden, nicht aber bei Gebäuden. Dort geht das, weil alle elektrisch leitfähigen Metallteile wie z. B. Armierungen (Bewehrungen), Bodenanker, Spundwände und sonstigen Metallkonstruktionen im Bereich der Bahntrasse miteinander elektrisch leitend verbunden werden müssen; bei Gebäuden wäre das etwas zu aufwendig, Siehe dazu auch diesen Artikel in Wikipedia.

  • Zitat von Mikal

    zum anderen kann man Quertragwerke nach schweizer Vorbild bauen und die Strecke zwischen den beiden Pfosten auf der Seite mit einer Stalkonstruktion, statt Seilen zu verbinden und den Fahrdraht dann dort aufzuhängen. Eine solche Konstruktion habe ich auch schon in Bad Vilbel gesehen.

    Nennt sich soweit ich weiß Joch und ist in in den meisten Ländern Standard, in Deutschland allerdings Sonderbauform die nur in Ausnahmefällen errichtet wird.


    Ein weiterer Nachteil der alten Quertragwerke: meist sind dort alle Fahrdrähte elektrisch verbunden, es ist also schwierig, nur ein Gleis stromlos zu schalten. Auch der Riss eines Fahrdrahtes kann die ganze Spannkonstruktion beschädigen, ein massiver Ausleger oder ein Joch ist weniger anfällig.

  • Vielen Dank euch allen für eure sehr informativen Antworten!


    Interessant finde ich, dass ich auf die Störanfälligkeit der Quertragwerke selbst überhaupt nicht gekommen bin, obwohl sie total nahe liegt. Das war ein richtiges Aha-Erlebnis, als ich es hier gelesen habe. Naheliegend, dass man das heute anders macht.


    Umso spannender ist, was ich vergangene Woche am Bahnhof Niedernhausen gesehen habe: Da überspannt das Quertragwerk 10 Gleise!


    zu baeuchle: Klar sind Einzelmasten die Alternative zu Quertragwerken. Ich habe mich aber gefragt, ob es aus Sicherheitsgründen überhaupt noch erlaubt ist, Masten auf Bahnsteige zu stellen. Es hätte ja sein können, dass man sie heute stattdessen zwischen die Gleise setzen muss. Aber in einem Bahnhof habe ich das noch nicht bewusst gesehen.

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    (Etwas frei nach Albert Einstein)

  • zu 6.):

    Wie baeuchle schon schrieb, gibt es die Bauwerkserdung bei Tunneln und Stützwänden, nicht aber bei Gebäuden. Dort geht das, weil alle elektrisch leitfähigen Metallteile wie z. B. Armierungen (Bewehrungen), Bodenanker, Spundwände und sonstigen Metallkonstruktionen im Bereich der Bahntrasse miteinander elektrisch leitend verbunden werden müssen; bei Gebäuden wäre das etwas zu aufwendig, Siehe dazu auch diesen Artikel in Wikipedia.


    Das heißt also, dass bei einem 400 Meter langen ICE-Bahnsteig alle Metallteile und sonstwie leitfähigen Teile miteinander verbunden sein müssen? Warum kann man nicht Teile einzeln erden? Warum müssen sie auch noch alle miteinander verbunden sein?

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    (Etwas frei nach Albert Einstein)

  • An einer Publikumsveranstaltung zum S6-Ausbau erinnere ich mich dunkel, wo Vertreter von DB Netz erklärten, dass die Quertragwerke zwar sehr flexible Anpassungen der Oberleitungsführung erlauben. Entscheidender Nachteil aber sei, dass im Fall von Arbeiten an einer Oberleitung gleich alles abgeschaltet werden müsse, mithin alle Gleise eines Bahnhofs stromlos würden. Einzelmasten hingegen erlauben Arbeiten in einem einzelnen Gleisbereich, während auf den übrigen Gleisen (mit Leitungen an anderen Masten) der (elektrisch betriebene) Schienenverkehr uneingeschränkt weiter rollen kann.

  • Das heißt also, dass bei einem 400 Meter langen ICE-Bahnsteig alle Metallteile und sonstwie leitfähigen Teile miteinander verbunden sein müssen? Warum kann man nicht Teile einzeln erden? Warum müssen sie auch noch alle miteinander verbunden sein?

    Miteinander Verbunden dürfen sie über die "Erdungsschiende / Erdungsband" sein. Ahnlich wie bei einem Blitzableiter am Haus. Der ist nicht nur in den Boden gerammt, sondern an einem in der Erde verlegten Metallband angeschlossen.

  • Das heißt also, dass bei einem 400 Meter langen ICE-Bahnsteig alle Metallteile und sonstwie leitfähigen Teile miteinander verbunden sein müssen? Warum kann man nicht Teile einzeln erden? Warum müssen sie auch noch alle miteinander verbunden sein?

    Weil Du ansonsten einen Kurzschluß (z. B. Fahreitungsriß) ggf. nicht ausreichend sicher detektieren kannst. Wenn die Teile miteinander verbunden sind, liegen sie alle auf gleichem Potential und es besteht keine (oder zumindest weniger) Gefahr, daß es irgendwelche Streuströme durch das Erdreich gibt.

  • Das heißt also, dass bei einem 400 Meter langen ICE-Bahnsteig alle Metallteile und sonstwie leitfähigen Teile miteinander verbunden sein müssen? Warum kann man nicht Teile einzeln erden? Warum müssen sie auch noch alle miteinander verbunden sein?

    Die Erdung selbst hat einen Widerstand. Um den klein zu halten, rammt man da lange Metallspieße in die Erde, aber auch damit ist der Widerstand noch nicht Null. Wenn jetzt über die Erdung ein Strom fließt, dann hat man einen Spannungsteiler. D.h. oberhalb der Erdung hat man immer noch ein Potential von mehr als Null Volt. Berührt man jetzt zwei an unterschiedlichen Stellen geerdete Leiter, dann fließt ein Strom durch den Menschen. Durch die Verbindung aller Erdungen miteinander verhindert man diese Potentialunterschiede. Geländer und Strommast sind direkt verbunden und haben das gleiche Potential.

  • Die Erdung selbst hat einen Widerstand. Um den klein zu halten, rammt man da lange Metallspieße in die Erde, aber auch damit ist der Widerstand noch nicht Null. Wenn jetzt über die Erdung ein Strom fließt, dann hat man einen Spannungsteiler. D.h. oberhalb der Erdung hat man immer noch ein Potential von mehr als Null Volt. Berührt man jetzt zwei an unterschiedlichen Stellen geerdete Leiter, dann fließt ein Strom durch den Menschen. Durch die Verbindung aller Erdungen miteinander verhindert man diese Potentialunterschiede. Geländer und Strommast sind direkt verbunden und haben das gleiche Potential.


    Vielen Dank! Darüber sollte die Sendung mit der Maus mal einen Film machen. Ist doch eigentlich total interessant. Könnte man im Modell nachbauen und dann super zeigen, wie es richtig funktioniert, und wie unterschiedlich starke Ströme an verschiedenen Stellen durchfließen, wenn man es anders machen würde.

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    (Etwas frei nach Albert Einstein)

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  • Die Erdung selbst hat einen Widerstand. Um den klein zu halten, rammt man da lange Metallspieße in die Erde, aber auch damit ist der Widerstand noch nicht Null. Wenn jetzt über die Erdung ein Strom fließt, dann hat man einen Spannungsteiler. D.h. oberhalb der Erdung hat man immer noch ein Potential von mehr als Null Volt. Berührt man jetzt zwei an unterschiedlichen Stellen geerdete Leiter, dann fließt ein Strom durch den Menschen. Durch die Verbindung aller Erdungen miteinander verhindert man diese Potentialunterschiede. Geländer und Strommast sind direkt verbunden und haben das gleiche Potential.

    Schlimmer noch: Übliche Erderwiderstände sind bei längerer Trockenheit gerne mal mehrere Ohm.

    Mit einer angemessenen Menge Pech (Sagen wir, Erderwiderstand 4 Ohm, Leitungswiderstand bis zur Schadensstelle 1 Ohm) würden bei 15kV "nur" 3000A fließen, was nicht zum Ansprechen einer Schutzeinrichtung führen wird.

    Dann hätte ein "Erder" direkten Fahrleitungskontakt und führt damit Fahrleitungsspannung und es passiert einfach nichts, außer, dass jeder, der dem "geerdeten" Metallteil zu nahe kommt, gegrillt wird.

    Auch bei geringen Erderwiderständen, bei denen eine Abschaltung zu erwarten ist, dauert es einen Moment, bis die entsprechende Schutzeinrichtung angesprochen hat. In der Zeit stehen auch dann schlecht geerdete Teile unter Spannung und können tödlich sein.


    Durch die Kombination aus Erdung und Verbindung mit Schienenpotential stellt man einerseits sicher, dass ein sehr hoher Kurzschlußstrom fließt (der die Abschaltung sicherstellt), als auch, dass alles auf ungefähr gleichem Potential ist, und daher kein gefährlicher Strom durch Menschen fließen kann.

    Im Prinzip würde es für den Personenschutz auch reichen, wenn man alle Metallteile untereinander verbindet und einen geschickt gebauten Erder verwendet (dieses Verfahren findet sich an Masten von Freileitungen, bei denen keine Schienen als verlässlicher Rückleiter liegen) - aber die Verbindung mit Schienenpotential ist bei Bahnanlagen neben der höheren Sicherheit auch noch materialsparender, da der Weg zum Gleis in der Regel sehr kurz ist.


    Wenn man sich einen wenig frequentierten Haltepunkt mit Seitenbahnsteig sucht, kann man das Ganze ganz gut verfolgen, wie in regelmäßigen Abständen Erdungsleitungen an die bahnsteigseitige Schiene geschraubt sind, und diese auf gleicher Höhe an Geländern u.Ä. wieder auftauchen.