Deutschlandticket [war: Nachfolge für das 9 €-Ticket]

  • Stendal und den Landkreis kenne ich sehr gut, da Freunde dort wohnen. Auch Stendalbus benutze ich dann dort. Die Altmark ist schon aufgrund der Distanzen ein Autolandstrich. Der dünnen Besiedlung wegen wäre hier das optimale Einsatzgebiet für autonome On-Demand-Angebote, um einen ordentlichen ÖPNV anzubieten. Bis dahin aber leidet die öffentliche Hand unter dem Problem, dass die Strukturschwäche die Einnahmen auf sehr kleiner Flamme hält, während ein klassischer ÖPNV mit Standards wie mindestens einer stündlichen Verbindung in jedes Nachbardorf aufgrund des geringen Nutzerpotenzials (geringe Besiedelung) einfach unfassbar teuer ist.


    Das Ergebnis ist ein Rumpf-ÖPNV im Landkreis für die Armen, armen Alten und Schüler. In der Stadt selbst ist das Angebot ein wenig besser mit 30-Minuten-Takt auf der wichtigsten Linie, sonst 60-Minuten-Takt. Außer zu Schulzeiten sitzt meist nur eine Handvoll Fahrgäste mit mir im Bus, ich fahre aber auch durchaus einmal alleine mit. In weit mehr als 50 Prozent der Fälle holen mich meine Gastgeber aber per Auto vom Hauptbahnhof ab oder bringen mich hin oder ich nehme ein Taxi, da die Wartezeiten (am hervorragend ausgebauten Busbahnhof) einfach viel zu lang wären. Der Kostenoptimierung wegen ist der Busbetrieb auf die eigenen Umläufe ausgerichtet und das passt halt meist nur durch Zufall zu den Fahrzeiten der Züge. Wer als Pendler einen ICE (bisher meist IC) nach Berlin oder Wolfsburg bekommen will, fährt mit dem Auto auf einen der beiden großen, kostenlosen Park+Ride-Parkplätze am Hauptbahnhof. Aber: Für diese große Kundengruppe der Fernverkehrspendler ist das Deutschlandticket ohnehin nicht sonderlich relevant, was die Zielgruppe erheblich verkleinern dürfte. Auch diese Überlegung dürfte mit zur Entscheidung nun beigetragen haben.


    Das Land via NASA bemüht sich durchaus immer wieder um lokale/regionale Verbesserungen, aktuell das Altmärker Y für einen besseren Zugverkehr besonders auf Stendal-Magdeburg. Voriges Jahr wurde der neue Haltepunkt Hochschule an der S-Bahn Mittelerde Mittelelbe eröffnet. Auch am Busverkehr verbessert man durchaus das Busangebot sehr löblich das Angebot immer einmal wieder, als nächstes im bisher weitgehenden ÖPNV-Niemandsland an der Landesgrenze nach Brandenburg: mit dem Elbe-Havel-Stern und einem stündlichen Rendezvous zweier Linien von Februar an.


    Warum der Landkreis beim Deutschlandticket die Reißleine zieht, verstehe ich schon. Zum teuren Betrieb des Busnetzes kamen jetzt mit dem Deutschlandticket noch 120.000 Euro weitere Kosten pro Jahr für eine "bundesweite" Fahrscheinsubventionierung obendrauf. Wenn dann noch strikte Sparvorgaben der Kontrollebene (Land) hinzukommen, verstehe ich schon, dass sich die Politik entscheidet, das "Nice-to-have" zu streichen. Ein Großteil der Fahrgäste in den Bussen dürfte Kundschaft sein, die nur oder fast nur lokal unterwegs ist. Zumal der Altmärker als solcher nicht so oft und gern weit reist. (Das ist ein subjektives, aber mehrfach bestätigtes und absolut nicht böse gemeintes Vorurteil.)


    "Technisch" liegt das Problem wohl auch darin, dass die Altmark zu keinem Verkehrsverbund gehört, der solche Kosten ein wenig einfacher ausgleichen bzw. mit dem Land einen finanziellen Ausgleich (für alle angeschlossenen Gebietskörperschaften) vereinbaren könnte. Womit wir beim Ur-Problem sind: Dass sich unsere Ampel-Koalition in Berlin das Ticket zwar anbieten möchte, sich aber auf Drängen der FDP bei der Finanzierung einen schlanken Fuß macht. Das bedeutet dann für die untere Ebene eine weitere Schippe "freiwillige" Ausgaben obendrauf, und das, wo den meisten Kreisen und Kommunen ohnehin schon finanziell das Wasser bis zum Hals steht, da sie immer wieder Aufgaben aufgegeben bekommen ohne auskömmlichen finanziellen Ausgleich (Ganzstagskitas, Schulbetreuung, diverse Sozialausgaben etc.).


    Unterm Strich setzt der Landkreis Stendal als erster das Subsidiaritätsprinzip durch: Es soll doch bitte derjenige das Angebot auch bezahlen, der es bestellt hat. Das mag auf uns unpopulär wirken, sehr viele Bürger im Landkreis SDL, die fast alle ja keine Buskunden sind, dürften das aber vom Prinzip her wohl goutieren. Für die Alternative, einen erheblichen Ausbau des ÖPNV, sodass er viele Autofahrten ersetzen könnte, bräuchte ein armer Landkreis wie dieser sehr erheblich höhere Zuschüsse von Bund und Land, während der Bund genau das Gegenteil umsetzt.

  • Aber Geld kann man ja nicht lockermachen, wenn man die Investitionsbremse einhalten muss, dieses parteipolitische Ideologieprojekt, das es irgendwie in die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland geschafft hat und jetzt das Parlament faktisch entmachtet.

    Es ist mitnichten ein parteipolitisches Ideologieprojekt, sondern ein Verfassungsergänzung um für die zukünftigen Regierungen und Parlamenten die Handlungsfähigkeit und damit die politische Gestaltungsmöglichkeit zu sichern. Wenn man aktuell auf Teufel komm raus Schulden macht, haben zukünftigen Regierungen keinerlei Chance Politik zu gestalten, weil sie dann nur noch den Mangel verwalten können und keine Spielräume mehr haben – Stichwort Generationengerechtigkeit. Das sollte man bedenken, bevor man sich über die Schuldenbremse beschwert.

  • Es ist mitnichten ein parteipolitisches Ideologieprojekt, sondern ein Verfassungsergänzung

    …und weil wir hier nicht in den USA sind, wissen wir auch alle, dass die ganze Verfassung Gültigkeit hat und nicht nur ihre Ergänzungen zu ihr. (Und heinz hat ja durchaus gesagt, dass es in der Verfassung steht, deswegen kann es ja dennoch parteipolitisch motiviert sein – die Schuldenbremse basiert bekanntermaßen auf einem Rechenfehler.) Komischerweise empfinden manche Parteien Gleichstellung oder das Recht auf Asyl als woke Modeerscheinungen, während die Schuldenbremse zum Grundkonsens der Bundesrepublik verklärt wird. Aber so nehmen wir uns heute jede Chance, Politik zu gestalten und verwalten nur noch den Mangel, unterhalten nicht mal unsere Infrastruktur ausreichend, damit nachfolgende Generationen gerechterweise eine genauso zerstörte Infrastruktur erben können wie die Boomer. Naja ok, wenn ich es so formuliere, verstehe ich den Punkt mit Generationengerechtigkeit…


    Aber mal ab von der Sinnhaftigkeit der Schuldenbremse ist das Problem im konkreten Fall eigentlich viel eher, dass fossile Subventionen nicht abgebaut werden können, weil die rhetorischen Marktextremisten dann halt doch vor allem ihre Spender glücklich machen die Hobbies von alten reichen weißen Männern fördern wollen.

    Einmal editiert, zuletzt von baeuchle () aus folgendem Grund: finden → empfinden

  • Die Schuldenbremse sehe ich nicht ganz so abwegig.....

    So ist man gezwungen für Mehreinnahmen zu sorgen wenn man viel Ausgaben hat.

    Es gibt da Stelllen wo noch Luft nach oben ist: Einkommens-/Kapitalertragssteuer.


    Der Spitzensteuersatz liegt bei 45% - Wer 1000000 Euro Verdienst hat und nichts absetzt

    hat dann 550000 Euro für das gesammte Jahr über - 45800 Euro pro Monat. Damit könnte

    man problemlos als vierköpfige Familie jeden Abend in einem 3 Sterne Restaurant essen....

    Da könnte problemlos auch 50% als Steuersatz stehen.

    Die Kapitalertragssteuer könnte man mit der Lohnssteuer verschmelzen.

    Auch könnte man eine Luxussteuer von 10-20% auf PKW ab gewisser Grösse erhoben werden

    (Italien hat eine - ab 250 PS gibts Extrasteuer)

    Subventionen abbauen und im Gegenzug Steuern auf die Konkurrenz der Produkte die vorher

    Subventionen erhielten sorgt auch für ausgeglicheneren Haushalt.

    In god (an invention by mankind) we trust - on earth we don't


    Sincerly yours, NSA
    powered by US government

  • Zitat

    Das sollte man bedenken, bevor man sich über die Schuldenbremse beschwert.

    Naja, das mit der öffentlichen Haushalten, Wirtschaft und mit Schulden und Zinsen ist nicht so trivial. Im Prinzip ist unser Wirtschaftssystem darauf ausgelegt, einen regelmäßigen Schuldenschnitt zu machen. Und im richtigen Moment und aus richtigem Grund sortiert es auch ein ausgeufertes soziales Gleichgewicht wieder ein. Gibt sehr interessante Literatur dazu von sehr anerkannten Ökonomen. Regularien, die einen Schuldenschnitt und eine Überschuldung verhindern sorgen in der Regel für schlimmere Auswirkungen.


    Manchmal macht es Sinn, auch bewusst Schulden zu machen. Es ist günstiger frühzeitig Schulden aufzunehmen und Investitionen in die Zukunft zu tätigen, die später zu höheren Einnahmen oder einer besseren Wettbewerbsfähigkeit münden, als Misstände zu verwalten und hinterher teurer grundzusarnieren.

  • Kehrtwende im Landkreis Stendal: Zumindest bis April wird das Deutschlandticket doch zunächst weiter anerkannt. Das hat der Kreistag in einer eigens für diesen Beschluss einberufenen Sondersitzung beschlossen laut MDR.


    Dahinter steckt übrigens nicht nur Unwissen, wie der MDR berichtet, sondern auch wohl auch das Desinteresse des für den ÖPNV zuständigen Ersten Kreisbeigeordneten am ÖPNV, weshalb er offenkundig das Unwissen der Kreistagsmitglieder zunächst nicht beseitigt hatte. Ein Warnschuss für den Bund sollte es dennoch sein, denn SDL erwartet nun ein dauerhaftes Finanzierungskonzept durch Bund und Länder für die Zeit ab April und macht die weitere Mitfinanzierung davon abhängig.

  • Es gibt dieser Tage ja viele Bilanzen zum Deutschlandticket. Ein paar neue Zahlen konkret zu Frankfurt von traffiQ finden sich in diesem FNP-Artikel. Demnach ist die Zahl der Fahrgäste pro Fahrt durch das Ticket um 30 Prozent gestiegen. Allerdings hat das Ticket nur vier Prozent "Systemeinsteiger" in den Frankfurter ÖPNV neu hineingebracht.

  • Allerdings hat das Ticket nur vier Prozent "Systemeinsteiger" in den Frankfurter ÖPNV neu hineingebracht.

    Vier Prozent mehr Menschen, die mitfahren. 4. Welche andere Maßnahme (außer dem 9-€-Ticket natürlich) hat jemals global so viel zusätzliche Fahrgäste gebracht?


    Und wenn nicht diese 4% der Fahrgäste richtig viel fahren, sind auch die übrigen Fahrgäste keineswegs großflächig vergrault worden, sondern nutzen den ÖPNV häufiger. Ich nehme an, das waren Menschen, die vorher hin- und wieder Einzelfahrkarten gekauft haben und nun dauerhaft den ÖPNV nutzen können, und dies dann auch tun.

  • Und wenn nicht diese 4% der Fahrgäste richtig viel fahren, sind auch die übrigen Fahrgäste keineswegs großflächig vergrault worden, sondern nutzen den ÖPNV häufiger. Ich nehme an, das waren Menschen, die vorher hin- und wieder Einzelfahrkarten gekauft haben und nun dauerhaft den ÖPNV nutzen können, und dies dann auch tun.

    Ja, siehe Artikel. Eine Hälfte hätte anderes Verkehrsmittel genutzt (also offenbar von Einzelfahrten zu Abo gewechselt), die andere Hälfte ist durchs D-Ticket induzierter Verkehr (siehe überfüllte Regionalzüge im Freizeitverkehr).

  • Ja, siehe Artikel. Eine Hälfte hätte anderes Verkehrsmittel genutzt (also offenbar von Einzelfahrten zu Abo gewechselt), die andere Hälfte ist durchs D-Ticket induzierter Verkehr (siehe überfüllte Regionalzüge im Freizeitverkehr).

    Danke, hatte ich überlesen. Aber bei der FNP (und ich nehme an, bei der traffiQ) steckt ein Rechenfehler: wenn 30% der Fahrten ohne Deutschlandticket nicht stattgefunden hätten, waren 70 die Baseline, und dann wären das 30/70 = 42% zusätzliche Fahrten, nicht „bis zu 30%“. 21% „zusätzliche Wege“ (heißt unter anderem: Menschen können es sich nun endlich mal leisten, zur Hohemark zu fahren um im Taunus zu wandern), 21% Verlagerung.

  • Da lese ich aber recht eindeutig, dass es um 100% aller Reisenden einer Fahrt geht, nämlich 70% die ohnehin gefahren wären, 15% die wegen D-Ticket von einem anderen Verkehrsmittel in den ÖPNV gewechselt sind und 15% die ohne D-Ticket gar nicht unterwegs wären. Oder lese ich das falsch?

  • Da lese ich aber recht eindeutig, dass es um 100% aller Reisenden einer Fahrt geht, nämlich 70% die ohnehin gefahren wären, 15% die wegen D-Ticket von einem anderen Verkehrsmittel in den ÖPNV gewechselt sind und 15% die ohne D-Ticket gar nicht unterwegs wären. Oder lese ich das falsch?

    Doch doch, aber wenn es um Steigerung geht, sind die 70% der aktuellen Fahrgäste 100% der Fahrgäste, die auch ohne Deutschland-Ticket gefahren wären. Und die 30% der aktuellen Fahrgäste, die nur des D-Tickets wegen fahren, sind dann 0.42 mal so viele wie die, die auch sonst gefahren wären.

  • Allerdings hat das Ticket nur vier Prozent "Systemeinsteiger" in den Frankfurter ÖPNV neu hineingebracht.

    Als man das vor der Einführung vorhergesagt hat, wollte das die meisten hier nicht wahr haben. Das DT löst nicht die Probleme des ÖPNVs in Deutschland. Weniger Dogmatismus, und sinnvolle Lösungen auch gerade in Kombination der verschiedenen Verkehrsträger wäre sinnvoller.

  • Als man das vor der Einführung vorhergesagt hat, wollte das die meisten hier nicht wahr haben. Das DT löst nicht die Probleme des ÖPNVs in Deutschland. Weniger Dogmatismus, und sinnvolle Lösungen auch gerade in Kombination der verschiedenen Verkehrsträger wäre sinnvoller.

    Wer genau hatte denn vier Prozent vorhergesagt? Ich glaube: niemand. Beweise gerne das Gegenteil.


    Und wer genau hatte vorhergesagt, dass das Deutschlandticket die Probleme des ÖPNVs in Deutschland lösen würde? Ebenfalls: niemand. Keine einzelne Maßnahme würde das. Dogmatismus ist, immer genau die aktuelle Maßnahme abzulehnen; sinnvoll wären alle Lösungen, die in die richtige Richtung gehen – egal, ob sie verschiedene Verkehrsträger kombinieren oder nicht.


    Und das bedeutet nicht, dass es sinnvoll wäre, keine Kombinationslösungen dabei zu haben.

  • Mir fallen noch zwei Dinge auf:

    1. Das Unverständnis, wie man eine Steigerung ausrechnet (siehe hier) war schon im September 2023 mal Thema.
    2. In der Informationskette zwischen Fahrgasterhebung, traffiQ und FNP bleibt völlig offen, was denn „Systemeinsteiger“ genau bedeutet. Die getroffene Aussage „[Menschen], die bisher ein anderes Verkehrsmittel nutzten und nie im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) unterwegs waren“ ist wohl kaum wörtlich zu nehmen – nie? Nicht mal damals ein Schulbus? Wie viele solche Menschen gibt es überhaupt? Welcher Anteil an solchen Menschen sind die 4%? Ich nehme an, die dazugehörige Antwortmöglichkeit in der Befragung ist deutlich sinnvoller, so wie „ich benutzte die Bahn fast nie (weniger als einmal im Monat)“. Oder „… im Jahr)“. Oder halt anders. Wie genau es war, wäre halt mal nett zu wissen, und dann könnte man sich die Frage stellen, wie die gesamt 30% der Fahrgäste, die ohne Deutschlandticket nicht gefahren wären, zu bewerten sind.